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Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft (vorgänge 178 – Heft 2/2007)

Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik. Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft (Heft 2, Juni 2007). Weitere Informationen: http://www.vorgaenge.humanistische-union.de

Rezension von Ralf E. Streibl

Coverbild "vorgänge 178"„vorgänge“, die Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, zeichnet in ihrer aktuellen Ausgabe ein gleichermaßen fundiertes wie erschreckendes Bild über den Wandel zu einem „zurückschlagenden“ Rechtsstaates, der ein fiktives „Grundrecht auf Sicherheit“ für alle Bürger reklamiert und über Freiheits- und Bürgerrechte stellt.

Ausgehend von den Terroranschlägen des 11. September 2001 wurden zeitnah neue Gesetze erlassen, was auch der Allgemeinheit diesen Prozess kurzfristig offensichtlicher werden ließ, ohne das dadurch Proteste dagegen eine dauerhafte breite Basis gefunden hätten. Doch sich Wurzeln dieser Veränderungen liegen tiefer, wie das Heft verdeutlicht. Dementsprechend beginnt das Heft mit einer Analyse von Sack über die Gründe des Niedergangs des Rechtsstaats und einer kritischen Bestandsaufnahme des Selbstverständnisses der juristischen Zunft. Albrecht bringt es in seinem Beitrag „Abschied vom Recht: Das nach-präventive Strafrecht“ auf den Punkt: “Wir sind auf dem Weg zu einer globalen Sicherung von Herrschaftsansprüchen ohne Recht” (S.28). 

Aus der Informatik-Perspektive betrachtet, fallen beim Betrachten der zehn Beiträge im Inhaltsverzeichnis besonders die Beiträge von Gusy und Pohlmann (“Wächst zusammen, was nicht zusammengehört?”) und Leopold (“Big Brother als Privatmann”) ins Auge: In ersterem geht es um das Trennungsgebot zwischen Verfassungsschutz und Polizei, welches durch zunehmende informationstechnische Vernetzung immer weiter aufgeweicht wird. Dieses Problem wird massiv gesteigert durch die seitens einiger Protagonisten Innerer Sicherheit immer wieder betriebene Diffamierung von Datenschutz als Täterschutz, die ein katastrophales Grundrecht- und Verfassungsverständnis dieser Personen offenkundig macht. Der Beitrag Leopolds setzt sich nicht nur mit der staatlichen Seite von Überwachung auseinander, sondern richtet den Fokus auf private Videoüberwachung und die damit verbundenen Rechtsprobleme. Der Autor resumiert: “Im Hinblick auf die zumeist rechtswidrige private Videoüberwachung bedarf es dringend klärender Regelungen des Gesetzgebers, um den drohenden Verlust der Achtung von Persönlichkeitsrechten im Verhältnis der Bürger untereinander abzuwenden” (S.91).

Erneut wird deutlich, dass neben den staatlicherseits bestehenden Begehrlichkeiten hinsichtlich Kontrolle und Überwachung (die teilweise vielleicht auch aus Hilflosigkeit und/oder Aktionismus im Sinne symbolischer Politik resultieren) ein weiteres gewaltiges Problem in der mangelnden gesellschaftlichen Sensibilität für diese Entwicklung und der fehlenden Abwehr zu sehen ist. Ganz im Gegenteil: das regelmäßig postulierte kollektive Sicherheitsbedürfnis verfestigt sich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeihung. Es hat sich, wie Singelstein in seinem Beitrag “Jeder ist verdächtig” treffend beschreibt, eine “neue gesellschaftliche Wahrnehmung und Interpretation von gesellschaftlichen Bedrohungen” (S.119) entwickelt. Diese, und in der Folge auch Einschätzungen hinsichtlich der Notwendigkeit von Kontrolle und der Rolle des Staates dabei, basieren weit mehr auf persönlichen Bewertungsprozessen als auf einer veränderten Bedrohungssituation. Es entwickelt sich ein Klima zunehmender sozialer Kontrolle, welches geeignet ist, rechtsstaatliche Standards zu untergraben (S.124). Verfassungmäßig garantierte Grundrechte schützen dagegen nur soweit, als sie nicht selbst in ihrer Legitimität hinterfragt werden. Insofern fasst Singelstein das fehlende Problembewusstsein und das unbedingte Streben nach Sicherheit in der Gesellschaft als wesentliche Elemnte dieser Entwicklung auf, die – und darin liegt die zentrale Gefahr dieses spiralförmigen Prozesses – widerum wieder zu einer weiteren schleichenden Umdeutung grundgesetzlicher Werte, Begriffe und Regelungen beiträgt.

Die „vorgänge“, herausgegeben vom Vorgänge e.V. mit der Gustav-Heinemann-Initiative und der Humanistischen Union erscheinen vierteljährlich im Berliner Wissenschafts-Verlag. Das hier beschriebene Heft lohnt die Lektüre, die überwiegend von Autorinnen und Autoren mit juristischem oder soziologischem Hintergrund verfassten Beiträge sind geeignet sowohl die eigene Auseinandersetzung als auch Diskussionen zum Thema argumentativ zu bereichern.

Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik. Nr. 178: Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft (Heft 2, Juni 2007). Weitere Informationen: http://www.vorgaenge.humanistische-union.de