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Stellungnahme des FIfF zur Besetzung des Lehrstuhls „Informatik und Gesellschaft und Didaktik der Informatik“ an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die Berliner Senatorin für Bildung, Jugend, Wissenschaft und Forschung – Frau Senatorin Sandra Scheeres – wird in Kürze über die Berufungsliste zur Besetzung des Lehrstuhls „Informatik und Gesellschaft und Didaktik der Informatik“ zu entscheiden haben. Das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF) hat Hinweise erhalten, dass die durch das altersbedingte Ausscheiden von Prof. Dr. Wolfgang Coy freigewordene Professur für Informatik und Gesellschaft fachfremd beziehungsweise nur mit marginalem Fachbezug wiederbesetzt werden soll. Sollten diese Hinweise den Tatsachen entsprechen, so ist das FIfF über die drohende Fehlbesetzung besorgt und möchte die Senatorin, den Präsidenten der Humboldt-Universität, den Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät II und die interessierte Öffentlichkeit vor dem damit verbundenen weiteren Abbau des Faches Informatik und Gesellschaft warnen – besonders in einer Zeit, in der die Informatik unsere Gesellschaft immer stärker durchdringt.

Mit diesem Schreiben sollen die Fachinhalte des Gebietes Informatik und Gesellschaft noch einmal kurz verdeutlicht werden. Denn momentan besteht die große Gefahr, dass dieses Gebiet lediglich als Auseinandersetzung mit losen Themen wie Mensch-Maschine-Interaktion, Interface-Design und Datenschutz missverstanden wird. Doch darum geht es im Kern dieser Disziplin nicht.

 

1. Über die Ursprünge einer Disziplin: Verantwortung, Kritik und Aufklärung

Die Informatik war nie eine neutrale Natur- und Technikwissenschaft. Im Gegenteil: Militär und die Wirtschaft haben die Entstehung und Entwicklung dieser Disziplin entscheidend geprägt, im guten wie im schlechten Sinne. Die De-Chiffrierung der Enigma und die Hollerith-Maschinen von IBM mit ihrer Bedeutung für den Holocaust sind nur zwei von vielen gegensätzlichen Fallbeispielen dieser Geschichte. Davon Zeugnis zu geben, haben in den 1940er und 50er Jahren nur die wenigsten Mitwirkenden (z.B. Heinz von Foerster, Norbert Wiener, Heinz Zemanek) als ihre Aufgabe angesehen. In der Zeit nach den Weltkriegen und den ersten Atombombenabwürfen, die ebenfalls ohne Rechentechnik undenkbar gewesen wären, drängte sich die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers unumgänglich auf. 

Die Informatik wuchs in den 1960/70er Jahren in einem geistigen Klima der Rationalisierung heran. Die irreführende Metapher vom Computer als Gehirn oder als künstliche Intelligenz hat dort ihren Ursprung. Das Leben selbst war in der Vorstellung mancher Technokraten ein berechenbares System; schlimmer noch: Mensch und Tier galten als informationsverarbeitende Systeme! Diese „Ohnmacht der Vernunft“ und die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben schließlich waren es, welche die Wissenschafts- und Gesellschaftskritik zu einem festen Bestandteil der später entstehenden Teildisziplin Informatik und Gesellschaft machen sollte.

Ihre Institutionalisierung fand in vielen deutschen Städten in den 1980/90er Jahren statt und war der Ausdruck eines Erkenntnisinteresses, das nach den Wechselwirkungen von Technik und Gesellschaft fragte und die Rolle der Informatik in der aufkommenden Informationsgesellschaft zu untersuchen begann. Das Nachdenken über die Technik, ihren Gehalt, ihre Herkunft, ihren Sinn und ihren gesellschaftlichen Kontext wurde zu einem Wesenszug der frühen Gemeinschaft von Wissenschaftlern der Informatik und Gesellschaft, von denen die meisten selbst Ingenieure, Mathematiker oder Naturwissenschaftler waren. 

Und während die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse durch die Informationstechnik in den folgenden Jahrzehnten zunahmen, wurde ihre politische, rechtliche und kulturelle Bedeutung für die Öffentlichkeit immer sichtbarer: Welche Chancen haben wir, diese permanenten Umwälzungen nicht sich selbst oder gar wenigen mächtigen Menschen oder Organisationen zu überlassen? Wie lassen sich technische Abhängigkeiten in Selbstbestimmung und bewusstes Gestalten überführen? Und welche technischen Freiheitsgrade sind für die Gesellschaft förderlich und schützenswert? All diese Fragen haben damit zu tun, die Technik einordnen und beurteilen zu können – und zwar so, dass jeder betroffene Mensch dazu in der Lage ist. Diese Form der Mündigkeit zu ermöglichen ist die genuine Aufgabe der besagten Disziplin. 

Die Lebendigkeit des Begriffs Informatik und Gesellschaft schöpft aus eben diesem geschichtlichen und geistigen Hintergrund. Er beinhaltet die Verbindung von Technik- und Geisteswissenschaften und hat sich in einem Kanon von Themengebieten niedergeschlagen: die Rolle der Informatik in der Informationsgesellschaft (und damit verbunden gesellschaftstheoretische Grundlagen aus den Bereichen Politik, Recht und Wirtschaft), Recht und Informatik (z.B. technischer und nichttechnischer Datenschutz), Geschichte der Informatik, Informatik als Wissenschaft, Ethik in Technik und Informatik, Digitale Medien, Digitale Langzeitarchivierung, Wissensordnung in der digitalen Welt und die Klärung informatischer Begriffe.

Paradoxerweise erlebt das Fachgebiet Informatik und Gesellschaft in den letzten Jahren einen Rückschlag nach dem anderen, obwohl ihre Fragestellungen nun endgültig von der Politik und der Gesellschaft, z.B. in der Netzpolitik, aufgegriffen worden sind. Ihre Lehrstühle werden von den Universitäten umgewidmet, fallengelassen oder sinnentleert.

 

2. Über Bildung

Die Bezeichnung des Lehr- und Forschungsgebietes „Informatik in Bildung und Gesellschaft“ hebt noch einen weiteren Bereich hervor: Bildung. Bildung, im Humboldtschen Sinne als ganzheitliche Formung der autonomen und mündigen Persönlichkeit begriffen, bedeutet für die Informatik zweierlei: Sie kann erstens als Fachgebiet nicht losgekoppelt von den Geistes- und Sozialwissenschaften, den Künsten, den Sprachen, der Literatur und Geschichte gelehrt und gelernt werden. Die Schnittstellen zu all diesen Bereichen und auch die Hybridität der Informatik innerhalb der Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften werden nur allzu gern vergessen – mit langfristig fatalen Folgen. Zweitens wird vom Fachbereich „Informatik in Bildung und Gesellschaft“ vor diesem Hintergrund ganz konkret die „Didaktik der Informatik“ gelehrt. Das bedeutet auch, dass dort Lehrerinnen und Lehrer für allgemein- und berufsbildende Schulen ausgebildet werden.

Eine informatische Bildung und Didaktik integriert kritische Urteilsfähigkeit, Verantwortungs-und Geschichtsbewusstsein, Gerechtigkeitsempfinden, Kommunikationsfähigkeit und Kreativität als zentrale Bestandteile in die Vermittlung informatischer Konzepte und Methoden. Das moderne Paradigma kompetenz- und problemlösungsorientierter Didaktik, das auch in den aktuellen Berliner Rahmenlehrplänen (RLP) der Informatik verankert ist, ist anschlussfähig an diese breite Herangehensweise. Als zentrale Fachkompetenzen für Informatik in der Sekundarstufe II werden genannt: „Wechselwirkungen zwischen Informatiksystemen, Mensch und Gesellschaft beurteilen“, „Informatiksysteme verstehen“, „Kommunizieren und Kooperieren“, „Problemlösen“, „Informatisches Modellieren“ und „Mit Informationen umgehen“.

Die komplexen Herausforderungen des Bildungssystems lassen sich nicht durch Techniken wie intelligente Tutorensysteme (ITS) bewältigen, sondern bedürfen individueller menschlicher Zuwendung. Dem Computer die menschliche Fähigkeit des „Verstehens“ einzuprogrammieren bleibt nach mehr als vier Jahrzehnten der Forschung nicht nur eine abwegige Wunschvorstellung. Ein solch grobes Missverständnis von Informatikdidaktik muss bei der Besetzung des Lehrstuhls „Informatik und Gesellschaft und Didaktik der Informatik“ vermieden werden.

 

Es wird sicher nicht einfach sein, den Platz von Prof. Dr. Wolfgang Coy, der ein Pionier und eine bedeutende Leitfigur von Informatik und Gesellschaft ist, gleichwertig auszufüllen, aber das FIfF sieht für die Nachfolge dennoch etliche geeignete Kandidatinnen und Kandidaten im In- und Ausland. 

Das FIfF appelliert an die beteiligten und betroffenen Personen, sich dieses Berufungsverfahrens anzunehmen und eine Fehlbesetzung zu vermeiden. Die Zukunft des Fachgebiets Informatik und Gesellschaft an der Humboldt-Universität ist nicht nur für die Informatik insgesamt richtungsweisend, sondern tangiert auch das Ansehen der Universität.