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FIfF-Kommunikation 1/2012 - Brief an das FIfF: Erinnern und Handeln

Liebe Mitglieder des FIfF, liebe Leserinnen und Leser,

 am 27. Januar 2012 gedachte der Bundestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. In bewegenden Worten schilderte Marcel Reich-Ranicki den Tag, an dem die Deportation der Bürger jüdischen Glaubens aus dem Warschauer Ghetto begann. Wir dürfen nie vergessen, welche Verbrechen damals von Deutschen verübt wurden.

Doch sich zu erinnern, reicht nicht aus – wichtig sind die Handlungen, die wir daraus ableiten. Einer der Grundsteine der nationalsozialistischen Herrschaft wurde an gleicher Stelle gelegt: Am 24. März 1933 wurde im damaligen Deutschen Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ beschlossen – das Ermächtigungsgesetz. Es fand eine große Mehrheit; auch bürgerliche Parteien stimmten dem Gesetz zu.

Wären die damaligen politischen Eliten ihrer Verantwortung besser gerecht geworden – vielleicht wäre dann die Gedenkstunde nicht notwendig gewesen.

Auch heute beobachten wir wie damals das Phänomen, dass rechter Terror verharmlost wird. Fast unter den Augen des Verfassungsschutzes konnten Neonazis zehn Menschen ermorden. „Rechts blind, links blöd“, so schrieb der Politikberater Michael Spreng in seinem Blog – immerhin 2002 der Wahlkampfmanager des damaligen konservativen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber. Durch rechte Gewalt kamen seit der Wiedervereinigung nach Recherchen der linker Umtriebe wahrlich unverdächtigen Zeitung Die Welt 182 Menschen ums Leben. Dass der nun nicht mehr zu leugnende rechte Terror überraschend sein soll, befremdet unter diesen Umständen.

Man kann ihn aber auch einfach wegdefinieren: Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sei ja wohl eine linke Partei gewesen, wurde unter dem Namen @SteinbachErika getwittert – eine bewusste „Provokation“, wie später nachgeschoben wurde. Dass es sich dabei tatsächlich um die Frankfurter Bundestagsabgeordnete handelte, vermag man sich kaum vorzustellen. Bei einer derartigen Relativierung der Verbrechen des Dritten Reiches und dem Versuch, sie dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben, fehlen mir die Worte. 

Aber der Verfassungsschutz hatte halt Wichtigeres zu tun. Spitzenpolitiker der Partei Die Linke werden seit Jahren beobachtet. Es handelt sich dabei nicht etwa um unbelehrbare SED-Kader, sondern um pragmatisch agierende Vertreter der Bundestagsfraktion. Sie fordern einen demokratischen Sozialismus – wie er keineswegs im Widerspruch zum Grundgesetz steht. Dabei fehlt den Verantwortlichen und Befürwortern der geheimdienstlichen Beobachtung jegliches Unrechtsbewusstsein – im Gegenteil, sie fordern sogar noch eine Ausweitung. Allen voran der CSU-Generalsekretär Dobrindt, der sogar fand, man müsse über ein Verbot der Partei nachdenken. 

In Öffentlichkeit und Medien rührt sich vorsichtige Kritik: „Irgendwelche Rücktritte? – Nö. Nennenswerte personelle Konsequenzen? – Nö. Wurden Landesämter für Verfassungsschutz geschlossen oder reformiert? – Nö“, kommentierte Isabel Schayani in den Tagesthemen. „Was passiert jetzt? Wir bekommen eine Neonazi-Datei.“

Und doch noch die Vorratsdatenspeicherung? Bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig gefordert, warte ich inzwischen nur noch darauf, dass sie mir mein Hausarzt als Mittel gegen Grippe verschreibt. Eine Studie des Max-Planck-Instituts ergab nun, dass die Vorratsdatenspeicherung keine Auswirkung auf die Aufklärung von Straftaten hat. Ein „Schutzlücke“ nach dem Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in Folge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 existiert nicht. Bekannt wurde die Studie erst durch den Chaos Computer Club.

Auch von anderer Seite sollen wir überwacht werden. SOPA, PIPA, ACTA – hinter diesen Abkürzungen verbergen sich weit gehende Überwachungs- und Zensurbefugnisse; diesmal im Interesse großer Medienkonzerne, die glauben, ihre eigenen Kunden überwachen zu müssen. Am 18. Januar 2012 blieben viele Web-Portale schwarz, darunter die englischsprachige Wikipedia.

Auch auf den Straßen regt sich Widerstand. Fast 50.000 Menschen gingen am 11. Februar 2012 bei Eiseskälte in vielen deutschen Städten auf die Straße, um gegen ACTA zu protestieren. Demonstrationen fanden weltweit statt. Die „Netzgemeinde“, die sich inzwischen gar nicht mehr so sehr vor der Gesamtbevölkerung unterscheidet, fordert ihre Rechte ein. Dennoch: „Ihr werdet den Kampf verlieren“, so unverdrossen der CDU-Bundestagsabgeordnete Ansgar Heveling, Anhänger der repressiven Durchsetzung eines veralteten Verständnisses von Urheberrecht – und Mitglied der Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft.

Warten wir‘s ab.

Mit FIfFigen Grüßen

Stefan Hügel