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„Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“

Kommentar zum Ermittlungsverfahren gegen netzpolitik.org

Am 30. Juli 2015 wurde bekannt, dass der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats gegen die Journalisten und Blogger Markus Beckedahl und André Meister sowie gegen Unbekannt eröffnet hat – aufgrund einer Strafanzeige des Präsidenten des deutschen Inlandsgeheimdienstes („Verfassungsschutz“). Dieses Vorgehen hatte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zuvor nur zwei Beispiele: die Spiegel-Affäre (1962) – die mit dem Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß endete – und die Affäre um die Zeitschrift Cicero (2005).

Verfassungsschutzpräsident Maaßen begründet sein Vorgehen Zeitungsberichten zufolge damit, „die weitere Arbeitsfähigkeit meines Hauses im Kampf gegen Extremismus und Terrorismus sicherzustellen“. Um die Arbeitsfähigkeit des Verfassungsschutzes muss er sich in der Tat Sorgen machen – weder leistete die dem Bundesinnenministerium unterstehende Behörde einen erkennbaren Beitrag zur Verhinderung der rechtsgerichteten, terroristischen Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), noch konnte sie bei der Spionageabwehr reüssieren, die ebenfalls zu ihren Aufgaben zählt. Die Ausspähung durch den US-Geheimdienst NSA – der dabei offenbar auch noch mit dem anderen deutschen Geheimdienst, dem Bundesnachrichtendienst (BND) zusammenarbeitet – konnte und kann er offensichtlich nicht verhindern. Von Bundesregierung und Bundesbehörden wird nach wie vor behauptet, es gebe keine gerichtsverwertbaren Beweise für eine solche Ausspähung – angesichts der seit nun zwei Jahren beinahe wöchentlich neu an die Öffentlichkeit kommenden Indizien ist das nicht nachvollziehbar.

Gerade angesichts der offenkundigen Zurückhaltung bei der Aufklärung des NSA- und BND-Skandals ist das schnelle Handeln des Generalbundesanwalts nun besonders auffällig.

Zunehmend unklar wird inzwischen, wer die Strafanzeige und das Vorgehen der beiden Behörden – Verfassungsschutz und Generalbundesanwaltschaft – initiiert und getragen hat. Aussagen von Maaßen zufolge wurde lediglich Anzeige gegen Unbekannt erstattet, der Generalbundesanwalt bestreitet dies. Unklar auch die Rolle der beiden Ministerien, die die Fachaufsicht über die Behörden führen. Bundesjustizminister Maas distanziert sich vom Vorgehen des Generalbundesanwalts – dass aber, bei der zu erwartenden Öffentlichkeitswirkung, der zuständige Minister vom Ermittlungsverfahren nicht vorab informiert wurde, ist nur schwer vorstellbar und war, anderen Presseberichten zufolge, auch nicht der Fall. Damit muss Maas wohl eine Mitverantwortung zugeschrieben werden. Gleiches gilt für Bundesinnenminister de Maizière, dessen Fachaufsicht der Verfassungsschutz untersteht. Inzwischen ließ selbst Bundeskanzlerin Merkel durch eine Sprecherin erklären, sie hätte Zweifel am Vorwurf des Landesverrats. Bundesjustizminister Maas hatte nach seiner Kehrtwende bei der Vorratsdatenspeicherung – die er selbst freilich immer noch bestreitet – ohnehin bereits einiges an Vertrauen in der netz- und bürgerrechtspolitischen Öffentlichkeit verspielt.

Über die Motive kann nun munter spekuliert werden:

  • Ist das Ganze ein Versuchsballon, um die Reaktion der Öffentlichkeit zu testen? Gut vorstellbar. In diesem Fall könnten wir zunächst beruhigt sein – die heftige Reaktion in großen Teilen der Presse zeigt, dass solch ein Versuch, die Pressefreiheit einzuschränken, (noch) nicht hingenommen wird.

  • Es kann auch der erste Schritt einer Gewöhnungsstrategie sein. So heftig die Reaktionen dieses Mal ausfielen – es ist abzusehen, dass im nächsten derartigen Fall die Empörung bereits deutlich geringer sein wird. Ebenso wie Überwachungsmaßnahmen Schritt für Schritt zum Normalzustand werden, lässt sich so auch Schritt für Schritt die Pressefreiheit – und weitere Grundrechte – abbauen.

  • 2014 wurden im Bundeskanzleramt Referenten mit verhaltensökonomischem Hintergrund eingestellt, von denen angenommen wird, dass sie sogenannte Nudging-Techniken in die Regierungsarbeit einführen werden. Ist also die Strafanzeige ein „Stups“, um kritische Presse im eigenen Sinn zu beeinflussen?

  • Der Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung sieht den Zugriff auf die gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten vor. Journalismus zählt bisher nicht dazu, Landesverrat schon.

Bereits jetzt ist abzusehen, dass die politischen Konsequenzen nicht mit der Spiegel-Affäre vergleichbar sein werden – noch wurde allerdings auch auf Vollstreckungsmaßnahmen gegen netzpolitik.org verzichtet. Zunächst wurde offenbar externe (!) Expertise eingeholt, ob der Vorwurf des Landesverrats überhaupt berechtigt ist. Noch ruht das Verfahren offenbar, kann aber jederzeit wieder aufgenommen werden. Überwachungsmaßnahmen sind weiterhin möglich.

Davon unabhängig ist der Vorgang beunruhigend. Zu viel spricht dafür, dass hier eine kritische Presse eingeschüchtert werden soll. Ermutigend ist dagegen, dass sich am Samstag, 1. August 2015 in Berlin rund 2.500 Menschen zu einer spontanen Demonstration zusammengefunden haben.

Gleichzeitig steht eine juristische Untersuchung des geheimdienstlichen Ausspähskandals immer noch aus. Doch hier ist nach zwei Jahren ein Gewöhnungseffekt schon eingetreten – neue Veröffentlichungen werden mittlerweile eher schulterzuckend hingenommen. Aber gerade Blogs wie netzpolitik.org werden der Verantwortung der Presse gerecht, wenn sie die Öffentlichkeit unermüdlich und umfassend über einen Skandal informieren, der jeden Tag, an dem Regierung und ihr unterstehende Behörden nichts unternehmen, ungeheuerlicher wird.

„Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird“ – gerne wird in diesen Tagen Erich Kästner zitiert. Ist es etwa schon wieder so weit?