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Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung

Mitwirkende: stefanh

Leipziger Kamera (Hg.): Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung, Münster: Unrast-Verlag, 2009. Preis: €18.00

Rezension von Stefan Hügel

Coverbild Leipziger KameraDas Thema Überwachung ist stärker denn je in der Diskussion. Nicht überraschend also, dass eine Reihe von Büchern zu diesem Thema in den vergangenen Wochen und Monaten veröffentlicht wurde. Dabei decken die Autoren zumeist ein breites politisches Spektrum ab – in der Ablehnung zunehmender staatlicher Kontrolle gibt es in der politischen Opposition – ob Linke, ob Grüne, ob FDP – einen breiten Konsens.

Die Initiative Leipziger Kamera entstand in der Stadt des Pilotprojekts zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze und besteht dort seit 2003. Sie hat nun einen Sammelband herausgegeben, in dem eine dezidiert linke Position in der Überwachungskritik vertreten wird. Neben Autoren aus dem Umfeld des CCC, von Attac und aus der Linkspartei geht das Spektrum bis hin zu einem Beitrag des Schwarzen Blocks.

Positionen

Damit verschiebt sich die politische Perspektive gegenüber der Hauptströmung der Überwachungskritik deutlich. Zu erkennen ist das sofort an den Positionen zum Bundesverfassungsgericht und seinen Entscheidungen der letzen Monate: Während diese von einer breiten Mehrheit begrüßt werden, schreibt Elke Steven vom Komitee für Grundrechte und Demokratie in ihrem Beitrag „Die Gerichte werden uns nicht befreien!“ skeptisch:

Von manchen Bürger_innen werden diese Entscheidungen gefeiert, als würde damit dem Staat in seiner Entwicklung hin zu einem präventiven Sicherheitsstaat tatsächlich die Grundlage entzogen. Aufgrund bisheriger Erfahrungen lässt sich jedoch voraussagen, dass lediglich weitere Gesetze folgen werden, die sukzessive die Grenzen weiter verschieben. ... Kaum hat das Gericht festgestellt, dass ein Gesetz (teilweise) rechtswidrig ist, sucht der Gesetzgeber nach neuen Anlässen und Wegen, seine Eingriffsrechte  auszudehnen. Und das Gericht vollzieht diese Entwicklung nach.

Und Ron Steinke, Autor u.a. bei Jungle World und Konkret kritisiert im Beitrag „Radikal wie Karlsruhe“ die Verschiebung des Diskurses vom politischen ins juristische und schreibt:

Die öffentliche Diskussion über staatliche Überwachung hat sich ... durch die 'Verrechtlichung' des Themas merklich verschoben, weg von der ursprünglichen Frage „Ist eine bestimmte Überwachungsmaßnahme politisch kritikwürdig?“ hin zur wesentlich unkritischeren Frage „Gibt es rechtliche Einwände?“

Inhalt

Der Band ist in sechs Abschnitte gegliedert, die jeweils mehrere Beiträge versammeln. Der erste Abschnitt „Was geht?“ behandelt Entwicklungen im Bereich der Überwachung und ihre politischen und gesellschaftlichen Aspekte. Hier wird auch der Bezug der Überwachungskultur zum Neoliberalismus hergestellt.

Der zweite Abschnitt „Was geht nicht?“ setzt sich mit der überwachungskritischen Bürgerrechtsbewegung auseinander – ihm entstammen die Zitate oben. Insbesondere nimmt er kritisch Stellung zum Vertrauen der Bürgerrechtsbewegung in staatliche Institutionen – in erster Linie das Bundesverfassungsgericht und den Bundesdatenschutzbeauftragten. Kritisiert werden auch aus Sicht eines Autors verbreitete Reaktionsmuster selbst innerhalb der Bürgerrechtsbewegung auf Überwachung: Ignoranz, d.h. den Hang zum „Wer nichts zu befürchten hat, hat auch nichts zu verbergen.“, Hypersensible Paranoia, d.h. die Überzeugung, dass die Lage ohnehin hoffnungslos sei und zuletzt die Erwartung, dass Aufklärung und Appelle das wirksame Gegenmittel gegen Überwachung sind.

Der dritte Abschnitt „Sind wir alle 129a?“ behandelt die Auswirkungen des Terrorismusparagraphen und hat als zentrale Autoren Andrej Holm, der vor rund zwei Jahren aufgrund des §129a – rechtswidrig, wie der BGH später feststellte – verhaftet wurde, und Anne Roth. Sie berichten von der Öffentlichkeitsarbeit während der Inhaftierung und über den Blog zu Überwachung, den Anne Roth seither betreibt.

Hauptthema des vierten Abschnitts „Was noch?“ ist das Leben abseits des Mainstreams. Er behandelt die besonderen Aspekte der Überwachung bei Flüchtlingen und Migranten, im Arbeitsleben, und im Sicherheitsbereich. Außerdem geht er auf die besonderen Aspekte der Überwachung bei Jugendlichen und das Thema Überwachung vs. Sicherheit aus der Perspektive von Frauen ein.

Die letzten beiden Abschnitte „Was sagen?“ und „Was tun?“ behandeln Argumentations- und Aktionsstrategien gegen Überwachung – von der „Rhetorik und Realität der Überwachung“ über „Schritte zu einem sicher(er)en Computersystem“ bis zu den Surveillance Camera Players.

Fazit

Der Band behandelt ein breites Spektrum von Themen: neben der allgegenwärtigen Vorratsdatenspeicherung und der Online-Durchsuchung – und den Positionen des Bundesverfassungsgerichts dazu – auch Aspekte wie den Zusammenhang der Überwachung mit dem Neoliberalismus, die Überwachung benachteiligter Gruppen und den „Kampf gegen den Terror“ mit seinen Auswirkungen. Er setzt sich dabei teilweise deutlich vom bürgerrechtlichen Mainstream-Diskurs ab; viele Positionen sind bei der breiten Mehrheit sicherlich nicht anschlussfähig.

Aber auch, wenn man nicht alle Positionen teilt, die in dem Buch vertreten werden: Es lenkt den Blick auf eine Reihe von Aspekten von Kontrolle und Überwachung, die bei der Diskussion nicht übersehen werden dürfen.

Leipziger Kamera (Hg.): Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung, Münster: Unrast-Verlag, 2009. Preis: €18.00